BAG-Urteil 2023: Erreichbarkeitspflicht bei Dienstplanänderung

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Kurzfristige Dienstplanänderungen und die Frage, ob Arbeitnehmer in ihrer Freizeit verpflichtet sind, solche Änderungen aktiv zur Kenntnis zu nehmen, sorgen seit Jahren für Diskussionen im Arbeitsrecht. Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat mit seinem Urteil vom 23. August 2023 (Az. 5 AZR 349/22) nun einen wichtigen Präzedenzfall zur Erreichbarkeitspflicht im Arbeitsrecht geschaffen, der erhebliche Auswirkungen auf Arbeitgeber und Arbeitnehmer hat. Die Entscheidung berührt zentrale Aspekte wie Recht auf Unerreichbarkeit, Arbeitszeitrecht, Mitwirkungspflichten bei kurzfristigen Änderungen, und den Gesundheitsschutz – und dürfte weit über den Einzelfall hinaus Signalwirkung entfalten.

 

Einführung: Warum dieses BAG-Urteil zur Erreichbarkeitspflicht bei Dienstplanänderungen so relevant ist

Die Frage, ob Arbeitnehmer in ihrer Freizeit verpflichtet sind, kurzfristige Dienstplanänderungen zur Kenntnis zu nehmen, betrifft nicht nur einzelne Branchen wie Rettungsdienste, sondern viele Unternehmen mit flexiblen Einsatzplänen.
Das aktuelle BAG-Urteil hat hier neue Maßstäbe gesetzt. Es macht deutlich, wie wichtig klare interne Regelungen für Arbeitgeber und Arbeitnehmer sind.

 

Sachverhalt: Dienstplanänderung in der Freizeit per SMS – Vom Einsatzplan zum Rechtsstreit

Im Jahr 2021 kam es zu einem Konflikt zwischen einem langjährig beschäftigten Notfallsanitäter und seinem Arbeitgeber. Der Mitarbeiter unterlag einer Betriebsvereinbarung zu sogenannten Springerdiensten, die es dem Arbeitgeber erlaubte, bis 20:00 Uhr am Vortag vor Dienstbeginn konkrete Einsätze festzulegen.

An zwei Tagen wurde der zunächst unkonkret eingeplante Dienst des Sanitäters kurzfristig in eine Frühschicht (6:00 bzw. 6:30 Uhr) umgelegt. Die Benachrichtigung erfolgte an arbeitsfreien Tagen – per SMS oder E-Mail über kurzfristige Dienstplanänderung. Versuche, ihn telefonisch zu erreichen, scheiterten.

Der Kläger las die Nachrichten nicht vor seinem ursprünglichen Arbeitsbeginn (7:30 Uhr). Er meldete sich pünktlich um diese Zeit telefonisch (da dies zu Corona-Zeiten so vereinbart war), wurde aber nicht eingesetzt, weil bereits jemand aus der Rufbereitschaft für ihn eingesprungen war. Der Arbeitgeber wertete dies als unentschuldigtes Fehlen, sprach eine Ermahnung und später eine Abmahnung aus und zog Stunden vom Arbeitszeitkonto ab.

Der Sanitäter klagte – mit dem Argument, dass er in seiner Freizeit nicht verpflichtet sei, dienstliche Nachrichten über Dienstplanänderungen zu lesen oder nach Änderungen zu suchen. Er habe keine Rufbereitschaft und besitze kein dienstliches Endgerät.

 

Kernfrage: Direktionsrecht des Arbeitgebers vs. Recht auf Unerreichbarkeit im Arbeitsrecht

Im Mittelpunkt stand die juristische Abwägung zwischen dem Direktionsrecht des Arbeitgebers (§ 106 GewO, § 315 BGB) und dem Persönlichkeitsrecht des Arbeitnehmers, insbesondere seinem Recht, in der Freizeit nicht erreichbar zu sein (sog. „Recht auf Unerreichbarkeit“).

Der Arbeitgeber berief sich auf die Betriebsvereinbarung und argumentierte, dass Arbeitnehmer verpflichtet seien, bis 20:00 Uhr am Vorabend zu prüfen, ob es kurzfristige Änderungen im Dienstplan gebe. Diese Pflicht sei notwendig, um die Einsatzfähigkeit sicherzustellen.

Der Kläger verwies dagegen auf § 12 TzBfG (Arbeit auf Abruf), der einen Vorlauf von mindestens vier Tagen vorsieht, sowie auf das Argument, dass jede dienstliche Kommunikation in der Freizeit Arbeitszeit darstellt. Außerdem kritisierte er, dass der Arbeitgeber keine rechtssichere Zustellung nachweisen konnte.

 

Entscheidung des LAG Schleswig-Holstein: Stärkung der Freizeit

Das LAG Schleswig-Holstein urteilte am 27.09.2022 (Az. 1 Sa 39 öD/22) zugunsten des Klägers.
Wesentliche Begründungspunkte:

  • Dienstplanänderungen sind empfangsbedürftige Willenserklärungen.
  • Zugang erfolgt erst, wenn unter gewöhnlichen Umständen mit Kenntnisnahme zu rechnen ist – hier frühestens zu Dienstbeginn.
  • Keine Pflicht zur Erreichbarkeit oder zum Lesen dienstlicher Nachrichten in der Freizeit.
  • „Recht auf Unerreichbarkeit“ ist Teil des allgemeinen Persönlichkeitsrechts.

Das Gericht sah jede dienstliche Nachricht in der Freizeit als Arbeitszeit an. Da der Arbeitgeber den Zugang nicht nachweisen konnte, musste er die Stunden gutschreiben und die Abmahnung entfernen. Schließlich gehöre es zu den vornehmsten Persönlichkeitsrechten, dass ein Mensch selbst entscheidet, für wen er/sie in dieser Zeit erreichbar sein will oder nicht. So hatte auch bereits das LAG Thüringen entschieden (Urteil vom 16.5.2018 – 6 Sa 442/17)

Zwischenfazit: Dieses Urteil war ein klares Signal gegen informelle Erreichbarkeitspflichten im Arbeitsrecht und für den Arbeitnehmerschutz.

 

Entscheidung des BAG: Pflicht zur aktiven Kenntnisnahme bei Dienstplanänderung in der Freizeit

Das Bundesarbeitsgericht hob dieses Urteil jedoch am 23.08.2023 auf und entschied zugunsten des Arbeitgebers.

Kernpunkte des BAG:

  • Arbeitnehmer sind aufgrund der Betriebsvereinbarung verpflichtet, Konkretisierungen der Springerdienste spätestens ab dem Abend des Vortags aktiv zur Kenntnis zu nehmen.
  • Diese Pflicht gilt als leistungssichernde Nebenpflicht (§ 241 Abs. 2 BGB).
  • Die Kenntnisnahme einer SMS zur kurzfristigen Dienstplanänderung in der Freizeit ist keine Arbeitszeit im arbeitsschutzrechtlichen Sinn, da der Eingriff minimal sei.
  • Organisatorische Schwierigkeiten wie längere Anfahrtswege spielen keine Rolle, solange die Änderung rechtzeitig (bis 20:00 Uhr) erfolgt.

Zwischenfazit: Das BAG stärkte die betriebliche Flexibilität und stellte klar, dass eine vertraglich oder per Betriebsvereinbarung geregelte Erreichbarkeitspflicht auch in die Freizeit hineinwirken kann.

 

Praxistipps für Arbeitgeber und HR-Verantwortliche

Damit es nicht zu vergleichbaren Streitigkeiten kommt, sollten Arbeitgeber:

  • Klare Betriebsvereinbarungen zu kurzfristigen Dienstplanänderungen abschließen, die Pflichten und Fristen eindeutig regeln.
  • Zustellwege dokumentieren – idealerweise über Systeme mit Lesebestätigung.
  • Transparente Kommunikation sicherstellen, damit Arbeitnehmer ihre Pflichten kennen.
  • Gesundheitsschutz beachten und Ruhezeiten einhalten.

Arbeitnehmer sollten prüfen, ob ihre internen Regelungen Mitwirkungspflichten in der Freizeit enthalten, und sich gegebenenfalls beraten lassen.

 

Fazit: Balance zwischen Flexibilität und Freizeit

Der Fall zeigt, wie unterschiedlich Gerichte den Ausgleich zwischen betrieblicher Flexibilität und Arbeitnehmerschutz bewerten.
Das LAG stellte den Schutz der Freizeit in den Vordergrund, das BAG hingegen die Funktionsfähigkeit des Betriebs – sofern die Pflichten klar geregelt sind.

Für die Praxis bedeutet das: Betriebsvereinbarungen zu Dienstplanänderungen sind das zentrale Steuerungsinstrument, um Konflikte zu vermeiden. Arbeitgeber können damit kurzfristige Änderungen rechtssicher kommunizieren, Arbeitnehmer wissen klar, wann sie verpflichtet sind, Nachrichten zur Kenntnis zu nehmen.

 

❓FAQ – BAG-Urteil 2023: Erreichbarkeitspflicht bei Dienstplanänderung

Das Urteil legt fest, dass Arbeitnehmer bei klar geregelten Betriebsvereinbarungen verpflichtet sein können, kurzfristige Dienstplanänderungen in ihrer Freizeit zur Kenntnis zu nehmen.

Das BAG sieht die kurze Kenntnisnahme als keinen relevanten Arbeitseingriff im Sinne des Arbeitsschutzes, daher ist es in diesem Kontext keine Arbeitszeit.

Bei bestehender Pflicht kann dies arbeitsrechtliche Konsequenzen wie Abmahnungen oder den Verlust von Arbeitszeitguthaben nach sich ziehen.

Dieses Recht schützt die Freizeit von Beschäftigten, kann aber durch klare, rechtlich wirksame Betriebsvereinbarungen eingeschränkt werden.

Ja, grundsätzlich für alle, besonders relevant ist es jedoch für Branchen mit flexiblen Einsatzplänen wie Rettungsdienste, Pflege, Gastronomie oder Schichtbetriebe.

Durch eindeutige Betriebsvereinbarungen, transparente Kommunikation und dokumentierte Zustellwege, etwa mit Lesebestätigungen.

*Rechtlicher Hinweis

Dieser Beitrag dient ausschließlich der allgemeinen Information und stellt keine Rechtsberatung im Einzelfall dar. Die Inhalte wurden mit größter Sorgfalt und nach bestem Wissen erstellt. Dennoch kann keine Gewähr für Richtigkeit, Vollständigkeit und Aktualität übernommen werden. 

Der Beitrag wurde am 14. August 2025 aktualisiert.

Änderungen der Rechtslage oder der Rechtsprechung, die nach diesem Datum erfolgt sind, sind nicht berücksichtigt. Bitte wenden Sie sich für eine individuelle rechtliche Beratung an einen Rechtsanwalt.

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